Prof. Dr. Gerhard Fischer
Hinter
der Frage, wie sich Walter Ulbricht zur Blockpolitik verhielt, steht
die umfassendere Frage: Welche Haltung vertrat er in der
Bündnispolitik? Ich möchte mit fünf Thesen eine Antwort darauf
versuchen.
Dreh- und Angelpunkt des Denkens und Wirkens von
Walter Ulbricht war das Bestreben, die führende Rolle der
Arbeiterklasse und ihrer Partei durchzusetzen, so wie sie zu seiner
Zeit verstanden wurde. Aber als Realpolitiker wusste er auch, dass die
Arbeiterklasse und ihre Partei die antifaschistisch-demokratische
Ordnung nicht allein errichten, den Sozialismus nicht allein aufbauen,
den Frieden nicht allein sichern konnten; dazu waren die Aufgaben zu
schwierig und die Bedingungen für ihre Lösung zu kompliziert. Um die
Probleme zu bewältigen, brauchten sie Partner - die Arbeit musste von
möglichst vielen demokratischen Kräften getragen werden. Verständnis
für diese Zusammenhänge war bei Walter Ulbricht vor allem in der Zeit
der Nazidiktatur und des antifaschistischen Kampfes gereift.
Auf
dem VII. Weltkongress der Komintern befürwortete er u. a. das
Zusammengehen mit christlichen Hitlergegnern. Die vielen Appelle der
KPD-Führung in dieser Richtung, die sich namentlich mit den Konferenzen
von "Brüssel" und "Bern" verbinden, und die Anfänge einer Deutschen
Volksfront in Paris wurden von ihm mitverantwortet. Er nahm aktiv an
der Arbeit des Nationalkomitees "Freies Deutschland" teil und leitete
die Kommission des Politbüros, die seit Anfang Februar 1945 das
Aktionsprogramm für dien "Block der kämpferischen Demokratie"
ausarbeitete, eine Richtschnur für die Aktivität der Kommunisten beim
demokratischen Neuaufbau im Nachkriegsdeutschland und eine Grundlage
für den Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945.
Für die Zeit
unmittelbar nach der Befreiung unseres Landes wird Walter Ulbricht der
Ausspruch zugeschrieben: "Es muss alles demokratisch aussehen, aber
wir" - das heißt die Kommunisten - "müssen alles in der Hand behalten."
Ich glaube dennoch: Für Ulbricht war die Bündnispolitik mehr als bloße
Fassade. Sie war ihm natürlich - wie jedem Politiker jegliche Politik -
Mittel zum Zweck, aber zu einem Zweck, der in seinen Augen, wie in den
Augen der SED überhaupt, richtig und notwendig war und im Interesse
aller Fortschrittskräfte lag: den Faschismus mit der Wurzel
auszurotten, unser gesellschaftliches Leben demokratisch zu erneuern
und zu gewährleisten, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehe.
Diese
Überzeugung bestimmte Ulbrichts Position auch zu den
bürgerlich-demokratischen Parteien in jener Periode: Er wollte mit
ihnen, wie er einmal mit Bezug auf Andreas Hermes sagte, ein Stück
Weges gemeinsam gehen. Die Länge dieses Wegstücks hing zu einem Gutteil
von der Haltung seiner jeweiligen Partner ab. Manche Wege trennten sich
früher oder später; andere führten weiter, bis zur gemeinsamen
Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR.
Ob das
gelang, hing spätestens seit der 2. Parteikonferenz der SED 1952 davon
ab, ob die Partner bereit waren, die führende Rolle der Arbeiterklasse
und ihrer Partei anzuerkennen. In diesem Falle war Walter Ulbricht
willens und imstande, mit ihnen ehrlich zusammenzuarbeiten - sei es im
Demokratischen Block und in der Nationalen Front, sei es in der
Volkskammer oder im Ministerrat. Sobald er gegenläufige Tendenzen
vermutete, schlug seine Bereitschaft zur Gemeinsamkeit ins Gegenteil
um. Ein einziges Beispiel: Im Januar 1953 wurde der stellvertretende
CDU-Vorsitzende Georg Dertinger verhaftet. Der hatte in Kleinmachnow
gewohnt und der dortigen CDU-Ortsgruppe angehört, war aber als
Außenminister auch in der CDU-Betriebsgruppe "Ministerien" erfasst und
hatte dort Vertraute. Kurz nach seiner Inhaftierung erklärte Ulbricht,
ihm sei keine gesetzliche Bestimmung bekannt, die den
bürgerlich-demokratischen Parteien erlaube, Betriebsgruppen zu bilden.
Wir in der CDU-Parteileitung erfuhren von dieser Äußerung durch die
Veröffentlichung im "Neuen Deutschland". Eigentlich hätten wir erwidern
können, uns sei auch keine gesetzliche Grundlage für die Tätigkeit von
Betriebsorganisationen der SED bekannt. Allerdings wäre das wohl der
CDU nicht gut bekommen. Also lösten wir sämtliche CDU-Betriebsgruppen
auf. Mit anderen Worten: Eine gewisse Ambivalenz, abhängig von der
jeweiligen Situation, lässt sich der Haltung Ulbrichts in Fragen der
Blockpolitik nicht absprechen.
Mit wachsender Festigung der DDR
und ihrer Gesellschaftsverhältnisse stabilisierten sich bei Walter
Ulbricht die positiven Wertungen der Blockpolitik. Vorschläge und
Hinweise der anderen Parteien nahm er bereitwillig auf. Das erwies sich
etwa bei der Initiative der CDU zur Einführung der staatlichen
Beteiligung an Privatbetrieben 1956, und das setzte sich ab 1960 auf
höherer Ebene fort, also seit seiner Wahl zum Vorsitzenden des
Staatsrates, in den er sofort führende Vertreter der anderen Parteien
als seine Stellvertreter oder als Mitglieder berief. Dafür spricht
auch, was er auf SED-Parteitagen in jener Zeit über die Rolle der
befreundeten Parteien äußerte.
Bedeutsam war in dieser
Hinsicht nicht zuletzt, dass Ulbricht der Existenz und Aktivität der
betreffenden Parteien einen hohen Stellenwert für die Außenwirkung der
DDR beimaß und dass umgekehrt ihm Auslandsreisen neue Erkenntnisse
vermittelten. So bekannte er nach einem Aufenthalt in der VAR zur Zeit
Nassers, er habe in diesem vom Islam geprägten Land deutlich gemerkt,
dass weltanschaulich ganz unterschiedliche Motive zur Entscheidung für
einen sozialistischen Weg führen könnten.
In Erinnerung bleiben
in diesem Zusammenhang Ulbrichts Zusammenkunft mit einer Delegation
christlicher Bürger unter Leitung des Leipziger Theologieprofessors D.
Emil Fuchs am 9. Februar 1961 und Ulbrichts Wartburg-Gespräch mit dem
Thüringer evangelisch-lutherischen Landesbischof Moritz Mitzenheim am
18. August 1964 - zwei Begegnungen, die meine damalige Partei mit
vorbereitet hatte bzw. in ihrer Arbeit umfassend auswertete. Davon wird
auf unserem Kolloquium noch gesondert die Rede sein.
Erfahrungen
der genannten Art wiederum bestärkten Walter Ulbricht offenbar in der
Annahme, in der DDR bilde sich eine sozialistische Menschengemeinschaft
heraus. So rief er auch die mit der SED befreundeten Parteien
wiederholt dazu auf, von den Interessen des ganzen Volkes auszugehen
und Verantwortung für das gesellschaftliche Ganze zu übernehmen. Diese
Entwicklung brach nach dem VIII. Parteitag der SED nicht ab, aber
setzte sich - um es zurückhaltend auszudrücken - in sehr modifizierter
Weise fort. Doch das ist schon nicht mehr der Zeitraum, der hier zur
Debatte steht.