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Juli 2008 Geschichtskorrespondenz

Walter Ulbrichts Wirken in den 50er Jahren

Prof. Dr. Siegfried Prokop

Der Rückblick auf das Wirken Walter Ulbrichts muss historisch-kritisch sein. Er darf aber auch nicht daran vorbeigehen, dass während der Honecker-Ära Ulbrichts historische Leistung verfälscht worden ist.

In der Zeit, da Ulbricht politische Verantwortung in der DDR trug, rückte das Land in die Rolle eines Juniorpartners der Sowjetunion auf, das Wirtschaftswachstum lag bei fünf Prozent und darüber und die Sozialleistungen waren ökonomisch fundiert, Auslandsschulden gab es in nennenswerter Größenordnung nicht. 1970 war das Jahr mit der höchsten Akkumulation in der DDR-Geschichte überhaupt. So kam unter Ulbricht die DDR an die Schwelle der unmittelbaren weltweiten völkerrechtlichen Anerkennung durch Wirtschaftskraft heran. Respektvoll sprach man im Westen vom "zweiten deutschen Wirtschaftswunder" und vom "Roten Preußen". Ulbricht war ein erfolgreicher Politiker, wobei im Vergleich zu seinen Gegenspielern im Westen zu berücksichtigen ist, dass er aus einer viel ungünstigeren Situation heraus agierte und nach einer Katastrophe eine gesellschaftliche Alternative zu verwirklichen versuchte. Ulbricht begann seine Karriere als Mann der bedingungslosen Treue gegenüber der UdSSR unter J. W. Stalin und er wurde als Reformer gestürzt, der zur stagnativen Politik Leonid I. Breshnews in Distanz stand. Trotz aller Inkonsequenzen im Reformkonzept erscheint dieser Wandel aus heutiger Sicht das Bemerkenswerteste im Wirken von Walter Ulbricht.
Methodologisch interessant ist der Ansatz von Gerhard Zwerenz, der in seiner Ulbricht-Studie von 1966 Maßstäbe setzte. Der Inhalt der Studie war den DDR-Bürgern überwiegend durch die von Sebastian Haffner geschriebene Rezension in "Konkret" bekannt geworden. Haffner hatte gestützt auf Zwerenz auch in anderen Publikationen eine von den antikommunistischen Verzerrungen freie Bewertung der Rolle Ulbrichts vorgenommen. Zwerenz schrieb: "Ob man es schätzt oder nicht, Walter Ulbricht stellt in seiner Person und Exponent seiner Partei die Kontinuität der deutschen revolutionären Tradition dar; und indem er sich einen Staat schuf, vereitelte er alle westdeutschen Bestrebungen, die revolutionäre Tradition der Linken in Deutschland zu eliminieren."(1)

Ulbrichts Weitblick

Nimmt man das Wirken Ulbrichts in den 50er Jahren in den Fokus, so fällt im Vergleich zu Konrad Adenauer Ulbrichts Weitblick auf. Schon 1950 drängte er mit Erfolg auf Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, während die westdeutsche Deutschlandpolitik dabei verharrte, in unrealistischer Weise ein Deutschland in den Grenzen von 1937 zu verlangen. Die Bundesrepublik setzte die traditionelle bürgerliche Maßlosigkeit fort, die Zwerenz in jener Studie beschrieb: "Dieses Bürgertum, das nie auf der Höhe seiner Zeit und Situation war und immer nur Vergangenes wiederherstellen wollte, verlor bei jedem Restaurationsversuch nur neue Gebiete und antwortete mit erneuerter Aggressivität, wobei es den Völkischen gelang, das Volk mitzureißen. Dergestalt verlor man zwei Kriege, erhielt aus der Ablehnung des Vertrages von Versailles das Über-Versailles von Potsdam und führt nun den Krieg, den man jeweils über den Rhein, die Weichsel, die Wolga getragen hatte, an der Elbe, dem Fluss in der Mitte Deutschlands: auf sich selbst zurückgeworfen und noch immer mit denselben ungelösten Problemen."(2)

Ulbricht zog in besonderer Weise den Hass der bürgerlichen Klassenkräfte auf sich. Der Schriftsteller Otto Gotsche, zugleich Ulbrichts Sekretär im Staatsrat, sah sich zu einem Reim veranlasst, der künstlerisch wohl kaum bedeutend ist, aber doch etwas von der Atmosphäre dieser Zeit vermittelt:

"Der Feind hat Hass und Hohn gespien,
Und weil sie ihn hassen, lieben wir ihn.
Unser Ruf den Feinden entgegenhalle:
Walter Ulbricht - das sind wir alle!"

Die Attacken gegen Ulbricht reichen bis in die Gegenwart, auf einige dieser Angriffe und Verfälschungen seiner Rolle soll hier hingewiesen werden.

Walter Ulbricht im Juni 1953

Der russische Historiker Boris Chavkin wirft in einer aktuellen Publikation Walter Ulbricht vor, dass er im Juni 1953 nichts unversucht gelassen habe, um in den Ruf "eines größeren Stalinisten als Stalin selbst"(3) zu kommen. Schon im Juli 1952 hätte Ulbricht als Generalsekretär der SED den "Kurs auf beschleunigten Aufbau des Sozialismus"(4) verkündet, behauptet Chavkin in Übereinstimmung mit der Verfügung des Ministerrates der UdSSR vom 2. Juni 1953 "Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik"(5). Diese Formulierung ist bezogen auf die II. Parteikonferenz der SED nicht korrekt und es ist zu fragen, warum fast die gesamte neuere 17. Juni-Literatur die unkorrekte Formulierung kolportiert. Ich zitiere aus dem Protokoll der II. Parteikonferenz, was Ulbricht dort wirklich gesagt hatte: "In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft und aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der SED beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird."(6) Die Rede war also vom "planmäßigen" und nicht vom "beschleunigten" Aufbau des Sozialismus! Historiker sollten sich immer an die Quellen halten.

Von einem "beschleunigten" Aufbau des Sozialismus sprach Ulbricht erst auf der 10. Plenartagung des ZK der SED (20. - 22. November 1952).(7) Hintergrund war die Fehlbewertung der internationalen Lage durch den kranken Jossif W. Stalin, der im Oktober 1952 davon ausging, dass ein Krieg in Europa unmittelbar bevorsteht.(8) Kurzfristig musste die DDR auf Veranlassung durch die SKK ihre Rüstungsanstrengungen um weitere 1,5 Milliarden DM aufstocken. Diese Zuspitzung trug wesentlich zu der Krise des Jahres 1953 bei.

Vom 2. bis 4. Juni weilten Otto Grotewohl, Fred Oelßner und Walter Ulbricht in Moskau, wo das Parteipräsidium der KPdSU eine als "Neuer Kurs" bezeichnete jähe Kurskorrektur offerierte. Solche "neue Kurse" wurde auch anderen sozialistischen Ländern empfohlen. Ausarbeitungen für einen "Neuen Kurs" in der DDR waren von einer Kommission unter Leitung des Politbüromitgliedes Fred Oelßner, der auch Gustav Just(9)  angehörte, vorbereitet worden. Aber nicht der "Neue Kurs" dürfte es gewesen sein, der es bei den Beratungen zwischen Berija und Ulbricht zu einem Zusammenstoß kommen ließ, sondern die von Berija und anderen Mitgliedern des Parteipräsidiums verfolgte Absicht, die DDR zur Disposition zu stellen. Nicht der "beschleunigte" Aufbau des Sozialismus, sondern der Aufbau des Sozialismus überhaupt, sollte beendet werden. Dass sich Ulbricht dagegen wehrte, war sein Recht, besagte aber nicht, dass er deshalb stalinistischer als Stalin gewesen sei. Auch Konrad Adenauer verwahrte sich scharf gegen die Churchill-Initiative zur Lösung der deutschen Frage vom 11. Mai 1953.(10) Dass Ulbricht im Zusammenhang mit der Krise vom 17. Juni auch Fehler beging, zeigt u. a. die überdimensionierte Vorbereitung seines 60. Geburtstages, wovon das meiste im Zuge des "Neuen Kurses" gestrichen wurde.

Ulbricht im Jahre 1956

Ulbrichts Reaktion auf die Geheimrede Nikita S. Chruschtschows nach dem XX. Parteitag der KPdSU ist vor allem in dem Bericht von Karl Schirdewan überliefert worden. In dem Taschenbuch "Aufstand gegen Ulbricht", ein Titel, der Schirdewan nicht gefiel, heißt es dazu: "Du kannst ja ruhig sagen, dass Stalin kein Klassiker ist."(11) Das ist eingängig und kurz und wurde nachfolgend allzu oft als Reaktion Ulbrichts auf den XX. Parteitag der KPdSU kolportiert. Auf keinen Fall ist es richtig, in dieser Sentenz den Beweis dafür sehen zu wollen, dass Ulbricht 1956 ein ungebrochener Stalinist gewesen sei, wie das leider so oft in der zeithistorischen Literatur geschieht.

Schirdewan vergaß in seinem Taschenbuch lobend zu erwähnen, welche Reformfortschritte er auf der 29. Tagung des ZK hervorgehoben hatte: "Es wurde ein Prämiensystem für den staatlichen und genossenschaftlichen Handel eingeführt, der entsprechend der individuellen Leistung eine Umsatzbeteiligung der Verkaufskräfte sichert. Das kostet uns aber allein in diesem Jahr zusätzlich noch 50 487 000 DM. Große Zustimmung unter der Bevölkerung findet die Einführung des Teilzahlungsgeschäftes im staatlichen und genossenschaftlichen Handel. Dieser Beschluss führte erstmals dazu, dass das Verhältnis zwischen dem Verkauf von Nahrungsmitteln und Industriewaren sich zugunsten des Verkaufs von Industriewaren zu ändern beginnt."(12)  Solche Neuerungen hatten in der Sowjetunion bis an ihr Ende keine Chance.

Obgleich die Reformphase im Gefolge der ungarischen Tragödie auch in der DDR beendet wurde, hätte hier der Vollständigkeit halber noch hinzugefügt werden können, dass 1956 durch undogmatische Politik der Durchbruch auf dem Felde der Jugendweihe gelang, während die orthodoxe Ablehnung der Jugendweihe durch Kirchenvertreter eine Niederlage erlebte. Für die Alltagskultur von Bedeutung war, dass die dogmatische Enge gegenüber dem FKK-Baden überwunden wurde. Auf Initiative des Kulturbundes trat an die Stelle der alten "Polizeiverordnung vom 10. Juli 1942" die "Anordnung zur Regelung des Freibadewesens vom 18. Mai 1956"(13). Damit begann der Siegeszug des FKK-Badens in der DDR.

Natürlich wären Reformen ganz anderer Qualität 1956 wünschenswert gewesen. Fritz  Behrens, Wolfgang Harich und Kurt Vieweg hatten dazu Vorstellungen entwickelt. Da aber der XX. Parteitag der KPdSU die ganze Fehlentwicklung in der Stalin-Ära einer einzigen Person anlastete und die sowjetische Gesellschaft für sakrosankt erklärte, kam aus Moskau kein Reformimpuls.

Gerhard Zwerenz hat schon 1966 die Vermutung geäußert, dass Ulbricht wahrscheinlich die Abkehr vom Stalinismus anders gewünscht hatte, als sie mit dem XX. Parteitag vollzogen wurde.(14) Zu denken gegeben haben wird 1956 allen Marxisten, die das Interview von Palmiro Togliatti mit der Zeitschrift "Nuovi Argumenti" lesen konnten, was auch für Ulbricht zutraf. Togliatti hatte erklärt: "Einst war alles, was gut ist, den übermenschlichen, positiven Eigenschaften eines einzigen Mannes zu verdanken - jetzt wird alles, was schlecht ist, den gleichermaßen außergewöhnlichen Mängeln desselben Mannes zugeschrieben. Im einen wie im andern Fall fehlt uns der Prüfstein zur Beurteilung. Die wahren Probleme treten dabei nicht zutage - so zum Beispiel, wie es kam, dass die Sowjetgesellschaft sich so weit vom selbst vorgezeichneten demokratischen Weg und von der Legalität entfernen konnte."(15) Togliattis Landsmann Domenico Losurdo verglich vor kurzem die unterschiedliche Auseinandersetzung mit dem Erbe von Stalin und von Mao Tsetung: "Es geht darum, den objektiv widersprüchlichen Charakter des Bewusstseinsprozesses zu betonen, und nicht den 'Verrat' oder die 'Degeneration' dieser oder jener Persönlichkeit. Indem Chruschtschow alles auf den 'Personenkult' reduzierte und Stalin dämonisierte, übernahm er dessen schlechteres Erbeteil. Da er es ablehnte, in der Auseinandersetzung mit Mao ebenso zu verfahren, erbte Deng Xiaoping dessen bessere Seiten. Das Verfahren, für das sich die neue chinesische Führung entschied, hat jedenfalls die Delegitimierung der revolutionären Macht vermieden."(16) Ob Ulbricht bereits so tief in den Konflikt des Jahres 1956 eindrang, sei dahingestellt. Dass er in eine solche Richtung dachte, scheint aber wahrscheinlich.

Auf der 29. Tagung des ZK der SED verwandte Ulbricht den Begriff "Unglück", womit er andeutete, für wie problematisch er die Vorgehensweise Chruschtschows hielt: "Ihr wisst, dass wir vorsichtig sein müssen. Es ist ein wichtiges Dokument, das an einige Parteien geschickt wurde, in falsche, also gegnerische Hände gekommen. Das hat einen großen internationalen Schaden angerichtet. Ihr werdet verstehen, dass wir jetzt in solchen Dingen etwas vorsichtiger sind. Wahrscheinlich werden wir jetzt so verfahren müssen, dass wir eine Reihe von Genossen zusammenrufen, sie mündlich informieren. Auf diese Weise werden dann die ZK-Mitglieder in den Bezirken informiert. Ich möchte also nicht, dass schriftliche Dokumente in diesen Fällen herausgegeben werden. Es ist ein Unglück passiert, und das genügt."(17) Auf der Parteiaktivtagung der Berliner Humboldt-Universität am 13. Juni 1956 erklärte Ulbricht: "Genosse Havemann hat in der Diskussion einige sehr interessante Hinweise gegeben. Er sagte, es sei bei der 'Fehlerkritik' so herausgekommen, als ob die Partei gegen das 'gute Alte' Fehler begangen habe. Er bemerkte richtig, dass die Gegner vom Recht reden, aber in Wirklichkeit in Westdeutschland ständig das Recht beugen. (Von WU durchgestrichen, der folgende Protokolltext:) In der Tat, selbst wenn man alle Fehler nimmt, die unter Stalins Führung in der Sowjetunion begangen wurden, oder Fehler, die in den Volksdemokratien begangen worden sind wie z. B. der Rayk-Prozess und der Kostoff-Prozess, so sind doch die Sowjetdemokratie und die Volksherrschaft in den volksdemokratischen Ländern tausendmal demokratischer als das verruchte System der Diktatur des Monopolkapitals in Westdeutschland, wo nur das Recht des Monopolkapitals besteht."(18) Dass er diese Textpassage durchstrich und für eine größere Öffentlichkeit nicht freigab, zeigt an, dass er sich seiner Bewertung nicht sicher war. Die Passage aber zeigt auch, dass er darum rang, eine offensive Auslegung vorzunehmen; auch dies musste misslingen, weil Moskau einen Rahmen vorgegeben hatte, der auf Delegitimierung des revolutionären Prozesses ausgelegt war.

Ulbricht hat vor allem auf der 29. Tagung, sicher auch unter dem Druck von Karl Schirdewan, Reformideen vorgetragen, die vor allem auf die Stärkung der Rechte der Arbeiter in den Betrieben gerichtet waren.(19) Sein Konzept der Arbeiterkomitees bedeutete letztlich die Wiederherstellung der Betriebsräte, weshalb er vor allem auf Widerstand von Seiten des FDGB stieß. Die Vertreter der Arbeiterkomitees sollten geheim gewählt werden und mehr Kandidaten, als gewählt werden konnten, sollten zur Wahl gestellt werden.

An die Bereitschaft Ulbrichts, sich an die Spitze der Reformkräfte zu stellen, hätten Walter Janka, Gustav Just und Wolfgang Harich anknüpfen sollen. Aber das Gespräch, das Ulbricht Harich gewährte, wurde dafür nicht genutzt. Es scheiterte. Über die Ursachen des Scheiterns ließ Harich nichts verlauten. Was zwischen Ulbricht und Harich am 7. November 1956 besprochen worden ist, wurde durch die Schilderungen Harichs in der Öffentlichkeit bekannt. In seinem Buch "Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit" verwandte er 21 Zeilen dafür. Er schrieb, dass das Gespräch nur 20 Minuten gedauert habe. Anders als bei dem Gespräch mit Botschafter Puschkin habe er kein Wort zu seiner Reform-Konzeption gesagt. Warum eigentlich nicht? Was aber sagte Harich? "Als ich mich ganz allgemein über unsichere Zeiten ausließ und zu verstehen gab, dass ich einen politischen Meinungsaustausch zwischen Führung und Intelligentsja, etwa im Rahmen der Akademie der Wissenschaften, für geboten hielt, schnitt Ulbricht mir das Wort ab mit dem Ausruf, schlecht sei an dieser Zeit, dass es Verräter gäbe, Lukács, Tibor Déry, Julius Hay und andere in Ungarn, erklärte er, alle seien sie Verräter. 'Und eines sage ich Ihnen: Wenn sich hier so etwas bilden sollte wie ein Petöfi-Club, das würde bei uns im Keim erstückt werden.' Auch die damit vernehmlich ausgesprochene Warnung habe ich in den Wind geschlagen."(20) Warum Ulbricht so heftig reagierte, teilte Harich dem Leser nicht mit. Ulbrichts Darstellung des Gesprächs wurde, da sie meines Wissens nie publiziert wurde, nicht so bekannt wie die von Harich.

Auf der Zentralen Arbeitskonferenz des ZK der SED schilderte Walter Ulbricht im Dezember 1956 sein Gespräch mit Harich: "Mir ist folgendes passiert: Ich habe Herrn Harich zu einer Besprechung bestellt. Da er Professor der Philosophie und Chefredakteur der Zeitschrift für Philosophie ist, wollte ich mich mit ihm darüber unterhalten, warum der Meinungsstreit in der Philosophie nicht vorwärts geht, warum man die neuen Probleme des Sozialismus nicht diskutiert, die Fragen der sozialistischen Moral usw. Nach fünf Minuten sagte mir Herr Harich: Wissen Sie, darum geht es gar nicht. Über den wissenschaftlichen Meinungsstreit gibt es keine Beschwerden. Der geht doch in der Öffentlichkeit so ganz gut vor sich. - Das interessierte ihn also gar nicht. Er sagte weiter: Es gibt viel wichtigere Fragen, zum Beispiel die Konsequenzen aus der internationalen Lage. Es ist Zeit, dass die volle Selbständigkeit aller Volksdemokratien und aller Völker gesichert wird. - Ich fragte. Was sollen wir denn noch an Selbständigkeit bekommen? Mir ist das nicht ganz klar. Niemand beeinflusst unsere Politik. Es gibt bei uns keine Beauftragten, die die Regierung zu irgendwelchen Maßnahmen veranlassen. Was wollen sie eigentlich? Das ist mir unverständlich. - Er sagte: Wenn eine volle Selbständigkeit bestünde, wie würde das auf die Völker Afrikas, auf den Nahen Osten usw. wirken? - Er antwortete: Nun, das heißt die volle Selbständigkeit zum Beispiel auch der Staaten, die in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zusammengefasst sind. - Ich fragte zurück: Sie meinen also die Selbständigkeit der Ukraine und Sowjetrusslands? Ja, das auch. - Ich sagte: Jetzt verstehe ich das erst. Das hat in der Tat mit Philosophie nichts zu tun. Das ist nicht nur Konterrevolution. Das ist eine Konzeption für den Krieg. - Das war die ganz sachliche Unterhaltung, die wir hatten."(21)

Dass sich Ulbricht als Realpolitiker auf solch ein abenteuerliches Konzept nicht einlassen konnte, scheint plausibel zu sein. Und Harich hat das wohl auch schnell begriffen, denn er berichtete im "Kreis der Gleichgesinnten" nicht darüber, womit er das Gespräch zum Scheitern gebracht hatte.(22) Seine Mitstreiter konnten vor allem deshalb auch keine richtigen Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen ableiten. Erst bei den Gesprächen zwischen Rudolf Augstein und Wolfgang Harich am 28. November 1956 erfuhr Harich eine frontale Zurückweisung. Augstein warf Harich vor, dass er einer Psychose gegen Ulbricht verfallen sei. Er halte dies für eine Dummheit. Ulbricht sei ein sehr energischer und geschickter Mann und den meisten Führern im Ostblock überlegen. Es komme nicht auf einen Führungswechsel in der SED an, sondern auf die Linie der Moskauer Politik. Wenn diese Linie richtig sei und das werde sie nach den polnischen und ungarischen Erfahrungen sicher werden, dann werde Ulbricht diese Linie in der DDR energischer und gründlicher durchführen, als seine Kollegen in den osteuropäischen Ländern. Harich widersprach heftig. Aber Augstein blieb bei seiner Auffassung. Ulbricht würde Harichs Auffassungen besser vertreten als Harich, wenn sich diese erst einmal in Moskau durchgesetzt hätten. Harich soll doch froh sein, dass die DDR diesen "wendigen alten Fuchs"(23) zum Parteiführer hat.

Zur Rolle Ulbrichts im Jahre 1956 wäre noch viel zu sagen, vor allem auch dazu, warum er nach der ungarischen Tragödie in dieser scharfen repressiven Art gegen die intellektuelle Opposition in der DDR(24) (u. a. mit Schauprozessen und hohen Zuchthausstrafen) vorgehen ließ, allerdings würde das den zeitlichen Rahmen dieses Beitrags sprengen. Als Konsequenz der ungarischen Ereignisse sah Ulbricht die Machtsicherung als Gebot Nummer 1 an. Politische Gegner schaltete er aus, aber im Unterschied zu Stalin ließ Ulbricht politische Kontrahenten am Leben. Auch richtete er Repression nicht gegen die ganze Intelligenz. Mit der Gründung des Forschungsrates der DDR bereits im Jahre 1957 wurde signalisiert, dass Wissenschaftler und Techniker eine vorrangige Förderung und Unterstützung erfahren.

Ulbrichts Sieg über die Opposition im Jahre 1956 war verbunden mit einer Unterdrückung jeglichen Ansatzes zu einem demokratischen Sozialismus, der als untaugliches Konzept der SPD galt und für die DDR abgelehnt wurde. Ulbrichts Kurs war ausgerichtet auf einen "realen Sozialismus" (andere Lesarten: "Staatssozialismus", "autoritärer Sozialismus"), der sich partiell am chinesischen Modell (bis 1960)  und überwiegend am sowjetischen Modell orientierte, was einem Rückfall hinter die politische Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft gleichkam. Das Volkseigentum verharrte auf der Stufe des Staatseigentums, was bedeutete, dass es zu keiner realen Vergesellschaftung der Produktionsmittel kam und die Entfremdung weiter wirkte. Die 1958 proklamierte sozialistische Demokratie ("Arbeite mit, plane mit, regiere mit!") bot Entfaltungschancen, allerdings nur in einem begrenzten Rahmen. Eine sich verselbständigende Bürokratie bediente sich der Zentralisierung und des bürokratischen Zentralismus. Der "reale Sozialismus" verfügte gegenüber seinen Bürgern nur über eine geringe Bindekraft. In den Westen gingen auch viele Bürger der DDR, die sich an sozialistischen Idealen orientierten. Der Bildhauer René Graetz erklärte zu dem Phänomen, dass eine große Zahl links eingestellter Kunststudenten der DDR in den Westen gingen, 1956 vor Funktionären des ZK der SED: "Zwei Drittel der Schüler im Westen kommen vom Osten. Das ist eine Katastrophe. Das ist ein Ergebnis unserer Politik. Unsere Schüler wissen überhaupt nichts über moderne Kunst. Sie haben hierüber nur gelernt: Das ist Unterstützung des Imperialismus, das ist reaktionär usw. - Die Zeit von 1900 bis heute ist für diese ganze Generation ein vollkommen unbekanntes Blatt. Lenin sagte einmal: Man muss von allen lernen."(25)

Solche Meinungsäußerungen, die den Anstoß zu Veränderungen hätten geben können, wurden als "Unklarheiten" abgetan. Wie sollte es aber bei dem weiter herrschenden Dogmatismus des SED-Apparates zu einer spontanen Identifikation jedes einzelnen Individuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen kommen? Gerade auch hausgemachte Fehler der von Walter Ulbricht geführten SED trugen Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre zur Zuspitzung der Lage in der DDR bei:

  • Das irreale Überholmanöver des V. Parteitages der SED gegenüber der Bundesrepublik, das 1961 zum Überholen im Pro-Kopf-Konsum und 1965 zum Überholen in der Arbeitsproduktivität führen sollte (Siegenjahrplan 1959).
  • Die überstürzte Einführung der zehnjährigen polytechnischen Oberschulbildung, die durch den verspäteten Berufsstart von etwa 80 Prozent zweier Altersjahrgänge die akute Arbeitskräftesituation weiter zuspitzte.
  • Die Kampagne des "sozialistischen Frühlings" 1960, die zu dem hohen Preis des Rückgangs der agrarischen Bruttoproduktion den Zusammenschluss in Agrargenossenschaften im Vergleich zum Siebenjahrplan (1965) vorfristig abschloss.
  • Die in zweistelliger Milliardenhöhe getätigte Fehlinvestition in die Flugzeugindustrie, die ein kleines Land wie die DDR nicht so ohne weites verkraften konnte. Wären die Mittel für die Flugzeugindustrie in die Rationalisierung der Industrieproduktion gesteckt worden, hätte ein bedeutender Produktivitätszuwachs erreicht werden können.

Die Krise des Jahres 1961 bewirkte bei Ulbricht ein Umdenken und machte ihn als Staatsmann im folgenden Dezennium in höherem Grade weise als zuvor, worüber hier nicht mehr zu sprechen ist. Abschließend soll hinterfragt werden, was der antikommunistische Zeitgeist im Juni 1961 Ulbricht fälschlich als "Jahrhundertlüge" anlastet. Auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 hatte Walter Ulbricht auf eine Anfrage von Annemarie Doherr von der "Frankfurter Rundschau" zutreffend erklärt, dass er nicht die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. Auf die Frage des "Spiegel", ob die Kontrolle über die Luftsicherheit auch die Kontrolle der Passagiere einschließe, erklärte Ulbricht: "Ob die Menschen zu Lande, zu Wasser oder in der Luft in die DDR kommen, sie unterliegen unserer Kontrolle ... Wir machen es genauso, wie man es in London macht. Damit ist die Sache in Ordnung."(26)

Was Ulbricht hier gesagt hat, war nichts als die Wahrheit. Im Juni 1961 verfolgte weder die Sowjetunion noch die DDR das Ziel, in Berlin eine Mauer zu errichten. Zu dieser Zeit wurde Kurs darauf genommen, den Flughafen Berlin-Schönefeld als Zentralflughafen für die Ost- und Westberliner auszubauen. Für den um Berlin entstandenen Konflikt wurde eine "Luftlösung" angestrebt. Das wäre eine Lösung im Interesse der Bürger in Ost und West gewesen. Unter Berufung auf alliierte Rechte blockierten aber die Westmächte eine "Luftlösung", weshalb Nikita Chruschtschow sich Ende Juli 1961 für eine Abriegelung zu Lande entschied(27), der die Warschauer Vertragsstaaten und Volkskammer und Regierung der DDR in den folgenden Tagen zustimmten. Diese "Mauer"-Lösung ist also keineswegs ohne Zutun des Westens erfolgt.(28)

Anmerkungen

(1) Gerhard Zwerenz: Walter Ulbricht, Archiv der Zeitgeschichte, München - Bern - Wien 1966,S. 25.
(2) Ebenda.
(3) Boris Chavkin: Moskau und der Volksaufstand in der DDR, in: Boris Chavkin: Verflechtungen der deutschen und russischen Zeitgeschichte. Ediert von Markus Edlinger sowie mit einem Vorwort versehen von Leonid Luks. Ibidem 2008, S. 234.
(4) Ebenda, S. 233.
(5) Vgl. Wilflriede Otto: Die SED im Juni 1953. Interne Dokumente, Berlin 2003, S. 39.
(6) Protokoll der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1952, S. 58.
(7) Vgl. Walter Ulbricht: Lehren des XIX. Parteitages der KPdSU für den Aufbau des Sozialismus in der DDR, Berlin 1952.
(8) Belegt werden kann das mit der von Konstantin Simonow angefertigten Mitschrift der zweistündigen Rede Stalins auf der ersten KPdSU-Plenartagung nach dem XIX. Parteitag der KPdSU, die erst 1989 veröffentlicht wurde. Vgl. Konstantin Simonow: Mit den Augen eines Menschen meiner Generation. Nachdenken über Stalin, in: Sowjetliteratur, Moskau 1989, H. 6, S. 56.
(9) Vgl. Gustav Just: Deutsch, Jahrgang 1921. Ein Lebensbericht, Potsdam 2001, S. 92 f.
(10) Vgl. Siegfried Prokop: Paukenschlag im Kalten Krieg. Die Churchill-Initiative vom 11. Mai 1953 zur deutschen Frage, in: junge Welt, 10./11. Mai 2003, S. 10/11.
(11) Karl Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht, Berlin 1994, S. 79.
(12) Aus dem Bericht Karl Schirdewans an die 29. Tagung des ZK. Überarbeitetes Protokoll des 29. Plenums des ZK der SED vom 12. bis 14. November 1956. Als parteiinternes Material gedruckt, Nr. 00843, S. 6.
(13) Vgl. FKK in der DDR. Zusammengestellt von Thomas Kupfermann, Berlin 2008,S. 45.
(14) Vgl. Zwerenz, a.a.O., S. 17.
(15) Archiv der Gegenwart. CD-Rom 1999, S. 05826; Freies Volk (Düsseldorf), 26. Juni 1956.
(16) Domenico Losurdo: Den Widerspruch des Sozialismus beherrschen. In: junge Welt, 10.04.2008, S. 11.
(17) SAPMO-BArch, DY 30 IV 2/1/123.
(18) SAPMO-BArch, NY 4182/502, Bl. 7.
(19) Vgl. Jochen Czerny: Die 29. ZK-Tagung, die Arbeiterkomitees und das Dilemma der Mitbestimmung, und Siegfried Prokop: Die internationale Beratung über Veränderungen in er Gewerkschaftsarbeit sozialistischer Länder im Oktober 1956 in Sofia. Beide in: Gewerkschaften und Betriebsräte im Kampf um Mitbestimmung und Demokratie 1919 - 1994, Bonn 1994, S. 97 ff. und S. 182 ff.
(20) Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition in der DDR, Berlin 1993, S. 45.
(21) SAPMO-Arch, DY 30/IV 2/1.01/314, Bl. 43/44.
(22) Vgl. Siegfried Prokop: 1956 - DDR am Scheideweg. Opposition und neue Konzepte der Intelligenz, Berlin 2006, S. 164 - 166.
(23) Ebenda, S. 200.
(24) Guntolf Herzberg: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin 2006.
(25) SAPMO-Arch, DY 30 2/1.10/308, Bl. 25.
(26) Erläuterungen Walter Ulbrichts zur Politik der DDR zum Friedensvertrag und zur Westberlinfrage auf einer internationalen Pressekonferenz, in: Neues Deutschland, Berlin, 16. Juni 1961.
(27) Vgl. Hans Kroll: Lebenserinnerungen eines Botschafters, Köln/Berlin 1967, S. 512.
(28) Ausführlicher vgl. Siegfried Prokop: Der 13. August 1961 - Geschichtsmythen und historischer Prozess, in: Kurt Frotscher/Wolfgang Krug (Hrsg.): Die Grenzschließung 1961. Im Spannungsfeld des Ost-West-Konfliktes, Schkeuditz 2001, S. 55 ff.