Prof. Dr. Siegfried Prokop
Der
Rückblick auf das Wirken Walter Ulbrichts muss historisch-kritisch
sein. Er darf aber auch nicht daran vorbeigehen, dass während der
Honecker-Ära Ulbrichts historische Leistung verfälscht worden ist.
In
der Zeit, da Ulbricht politische Verantwortung in der DDR trug, rückte
das Land in die Rolle eines Juniorpartners der Sowjetunion auf, das
Wirtschaftswachstum lag bei fünf Prozent und darüber und die
Sozialleistungen waren ökonomisch fundiert, Auslandsschulden gab es in
nennenswerter Größenordnung nicht. 1970 war das Jahr mit der höchsten
Akkumulation in der DDR-Geschichte überhaupt. So kam unter Ulbricht die
DDR an die Schwelle der unmittelbaren weltweiten völkerrechtlichen
Anerkennung durch Wirtschaftskraft heran. Respektvoll sprach man im
Westen vom "zweiten deutschen Wirtschaftswunder" und vom "Roten
Preußen". Ulbricht war ein erfolgreicher Politiker, wobei im Vergleich
zu seinen Gegenspielern im Westen zu berücksichtigen ist, dass er aus
einer viel ungünstigeren Situation heraus agierte und nach einer
Katastrophe eine gesellschaftliche Alternative zu verwirklichen
versuchte. Ulbricht begann seine Karriere als Mann der bedingungslosen
Treue gegenüber der UdSSR unter J. W. Stalin und er wurde als
Reformer gestürzt, der zur stagnativen Politik Leonid I. Breshnews in
Distanz stand. Trotz aller Inkonsequenzen im Reformkonzept erscheint
dieser Wandel aus heutiger Sicht das Bemerkenswerteste im Wirken von
Walter Ulbricht.
Methodologisch interessant ist der Ansatz von
Gerhard Zwerenz, der in seiner Ulbricht-Studie von 1966 Maßstäbe
setzte. Der Inhalt der Studie war den DDR-Bürgern überwiegend durch die
von Sebastian Haffner geschriebene Rezension in "Konkret" bekannt
geworden. Haffner hatte gestützt auf Zwerenz auch in anderen
Publikationen eine von den antikommunistischen Verzerrungen freie
Bewertung der Rolle Ulbrichts vorgenommen. Zwerenz schrieb: "Ob man es
schätzt oder nicht, Walter Ulbricht stellt in seiner Person und
Exponent seiner Partei die Kontinuität der deutschen revolutionären
Tradition dar; und indem er sich einen Staat schuf, vereitelte er alle
westdeutschen Bestrebungen, die revolutionäre Tradition der Linken in
Deutschland zu eliminieren."(1)
Ulbrichts Weitblick
Nimmt
man das Wirken Ulbrichts in den 50er Jahren in den Fokus, so fällt im
Vergleich zu Konrad Adenauer Ulbrichts Weitblick auf. Schon 1950
drängte er mit Erfolg auf Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, während
die westdeutsche Deutschlandpolitik dabei verharrte, in unrealistischer
Weise ein Deutschland in den Grenzen von 1937 zu verlangen. Die
Bundesrepublik setzte die traditionelle bürgerliche Maßlosigkeit fort,
die Zwerenz in jener Studie beschrieb: "Dieses Bürgertum, das nie auf
der Höhe seiner Zeit und Situation war und immer nur Vergangenes
wiederherstellen wollte, verlor bei jedem Restaurationsversuch nur neue
Gebiete und antwortete mit erneuerter Aggressivität, wobei es den
Völkischen gelang, das Volk mitzureißen. Dergestalt verlor man zwei
Kriege, erhielt aus der Ablehnung des Vertrages von Versailles das
Über-Versailles von Potsdam und führt nun den Krieg, den man jeweils
über den Rhein, die Weichsel, die Wolga getragen hatte, an der Elbe,
dem Fluss in der Mitte Deutschlands: auf sich selbst zurückgeworfen und
noch immer mit denselben ungelösten Problemen."(2)
Ulbricht
zog in besonderer Weise den Hass der bürgerlichen Klassenkräfte auf
sich. Der Schriftsteller Otto Gotsche, zugleich Ulbrichts Sekretär im
Staatsrat, sah sich zu einem Reim veranlasst, der künstlerisch wohl
kaum bedeutend ist, aber doch etwas von der Atmosphäre dieser Zeit
vermittelt:
"Der Feind hat Hass und Hohn gespien,
Und weil sie ihn hassen, lieben wir ihn.
Unser Ruf den Feinden entgegenhalle:
Walter Ulbricht - das sind wir alle!"
Die
Attacken gegen Ulbricht reichen bis in die Gegenwart, auf einige dieser
Angriffe und Verfälschungen seiner Rolle soll hier hingewiesen werden.
Walter Ulbricht im Juni 1953
Der
russische Historiker Boris Chavkin wirft in einer aktuellen Publikation
Walter Ulbricht vor, dass er im Juni 1953 nichts unversucht gelassen
habe, um in den Ruf "eines größeren Stalinisten als Stalin selbst"(3)
zu kommen. Schon im Juli 1952 hätte Ulbricht als Generalsekretär der
SED den "Kurs auf beschleunigten Aufbau des Sozialismus"(4) verkündet,
behauptet Chavkin in Übereinstimmung mit der Verfügung des
Ministerrates der UdSSR vom 2. Juni 1953 "Über die Maßnahmen zur
Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen
Republik"(5). Diese Formulierung ist bezogen auf die II.
Parteikonferenz der SED nicht korrekt und es ist zu fragen, warum fast
die gesamte neuere 17. Juni-Literatur die unkorrekte Formulierung
kolportiert. Ich zitiere aus dem Protokoll der II. Parteikonferenz, was
Ulbricht dort wirklich gesagt hatte: "In Übereinstimmung mit den
Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft
und aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der SED
beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der
Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut
wird."(6) Die Rede war also vom "planmäßigen" und nicht vom
"beschleunigten" Aufbau des Sozialismus! Historiker sollten sich immer
an die Quellen halten.
Von einem "beschleunigten" Aufbau des
Sozialismus sprach Ulbricht erst auf der 10. Plenartagung des ZK der
SED (20. - 22. November 1952).(7) Hintergrund war die Fehlbewertung der
internationalen Lage durch den kranken Jossif W. Stalin, der im Oktober
1952 davon ausging, dass ein Krieg in Europa unmittelbar bevorsteht.(8)
Kurzfristig musste die DDR auf Veranlassung durch die SKK ihre
Rüstungsanstrengungen um weitere 1,5 Milliarden DM aufstocken. Diese
Zuspitzung trug wesentlich zu der Krise des Jahres 1953 bei.
Vom
2. bis 4. Juni weilten Otto Grotewohl, Fred Oelßner und Walter Ulbricht
in Moskau, wo das Parteipräsidium der KPdSU eine als "Neuer Kurs"
bezeichnete jähe Kurskorrektur offerierte. Solche "neue Kurse" wurde
auch anderen sozialistischen Ländern empfohlen. Ausarbeitungen für
einen "Neuen Kurs" in der DDR waren von einer Kommission unter Leitung
des Politbüromitgliedes Fred Oelßner, der auch Gustav Just(9)
angehörte, vorbereitet worden. Aber nicht der "Neue Kurs" dürfte es
gewesen sein, der es bei den Beratungen zwischen Berija und Ulbricht zu
einem Zusammenstoß kommen ließ, sondern die von Berija und anderen
Mitgliedern des Parteipräsidiums verfolgte Absicht, die DDR zur
Disposition zu stellen. Nicht der "beschleunigte" Aufbau des
Sozialismus, sondern der Aufbau des Sozialismus überhaupt, sollte
beendet werden. Dass sich Ulbricht dagegen wehrte, war sein Recht,
besagte aber nicht, dass er deshalb stalinistischer als Stalin gewesen
sei. Auch Konrad Adenauer verwahrte sich scharf gegen die
Churchill-Initiative zur Lösung der deutschen Frage vom 11. Mai
1953.(10) Dass Ulbricht im Zusammenhang mit der Krise vom 17. Juni auch
Fehler beging, zeigt u. a. die überdimensionierte Vorbereitung
seines 60. Geburtstages, wovon das meiste im Zuge des "Neuen Kurses"
gestrichen wurde.
Ulbricht im Jahre 1956
Ulbrichts
Reaktion auf die Geheimrede Nikita S. Chruschtschows nach dem XX.
Parteitag der KPdSU ist vor allem in dem Bericht von Karl Schirdewan
überliefert worden. In dem Taschenbuch "Aufstand gegen Ulbricht", ein
Titel, der Schirdewan nicht gefiel, heißt es dazu: "Du kannst ja ruhig
sagen, dass Stalin kein Klassiker ist."(11) Das ist eingängig und kurz
und wurde nachfolgend allzu oft als Reaktion Ulbrichts auf den XX.
Parteitag der KPdSU kolportiert. Auf keinen Fall ist es richtig, in
dieser Sentenz den Beweis dafür sehen zu wollen, dass Ulbricht 1956 ein
ungebrochener Stalinist gewesen sei, wie das leider so oft in der
zeithistorischen Literatur geschieht.
Schirdewan vergaß in
seinem Taschenbuch lobend zu erwähnen, welche Reformfortschritte er auf
der 29. Tagung des ZK hervorgehoben hatte: "Es wurde ein Prämiensystem
für den staatlichen und genossenschaftlichen Handel eingeführt, der
entsprechend der individuellen Leistung eine Umsatzbeteiligung der
Verkaufskräfte sichert. Das kostet uns aber allein in diesem Jahr
zusätzlich noch 50 487 000 DM. Große Zustimmung unter der
Bevölkerung findet die Einführung des Teilzahlungsgeschäftes im
staatlichen und genossenschaftlichen Handel. Dieser Beschluss führte
erstmals dazu, dass das Verhältnis zwischen dem Verkauf von
Nahrungsmitteln und Industriewaren sich zugunsten des Verkaufs von
Industriewaren zu ändern beginnt."(12) Solche Neuerungen hatten
in der Sowjetunion bis an ihr Ende keine Chance.
Obgleich die
Reformphase im Gefolge der ungarischen Tragödie auch in der DDR beendet
wurde, hätte hier der Vollständigkeit halber noch hinzugefügt werden
können, dass 1956 durch undogmatische Politik der Durchbruch auf dem
Felde der Jugendweihe gelang, während die orthodoxe Ablehnung der
Jugendweihe durch Kirchenvertreter eine Niederlage erlebte. Für die
Alltagskultur von Bedeutung war, dass die dogmatische Enge gegenüber
dem FKK-Baden überwunden wurde. Auf Initiative des Kulturbundes trat an
die Stelle der alten "Polizeiverordnung vom 10. Juli 1942" die
"Anordnung zur Regelung des Freibadewesens vom 18. Mai 1956"(13). Damit
begann der Siegeszug des FKK-Badens in der DDR.
Natürlich wären
Reformen ganz anderer Qualität 1956 wünschenswert gewesen. Fritz
Behrens, Wolfgang Harich und Kurt Vieweg hatten dazu Vorstellungen
entwickelt. Da aber der XX. Parteitag der KPdSU die ganze
Fehlentwicklung in der Stalin-Ära einer einzigen Person anlastete und
die sowjetische Gesellschaft für sakrosankt erklärte, kam aus Moskau
kein Reformimpuls.
Gerhard Zwerenz hat schon 1966 die
Vermutung geäußert, dass Ulbricht wahrscheinlich die Abkehr vom
Stalinismus anders gewünscht hatte, als sie mit dem XX. Parteitag
vollzogen wurde.(14) Zu denken gegeben haben wird 1956 allen Marxisten,
die das Interview von Palmiro Togliatti mit der Zeitschrift "Nuovi
Argumenti" lesen konnten, was auch für Ulbricht zutraf. Togliatti hatte
erklärt: "Einst war alles, was gut ist, den übermenschlichen, positiven
Eigenschaften eines einzigen Mannes zu verdanken - jetzt wird alles,
was schlecht ist, den gleichermaßen außergewöhnlichen Mängeln desselben
Mannes zugeschrieben. Im einen wie im andern Fall fehlt uns der
Prüfstein zur Beurteilung. Die wahren Probleme treten dabei nicht
zutage - so zum Beispiel, wie es kam, dass die Sowjetgesellschaft sich
so weit vom selbst vorgezeichneten demokratischen Weg und von der
Legalität entfernen konnte."(15) Togliattis Landsmann Domenico Losurdo
verglich vor kurzem die unterschiedliche Auseinandersetzung mit dem
Erbe von Stalin und von Mao Tsetung: "Es geht darum, den objektiv
widersprüchlichen Charakter des Bewusstseinsprozesses zu betonen, und
nicht den 'Verrat' oder die 'Degeneration' dieser oder jener
Persönlichkeit. Indem Chruschtschow alles auf den 'Personenkult'
reduzierte und Stalin dämonisierte, übernahm er dessen schlechteres
Erbeteil. Da er es ablehnte, in der Auseinandersetzung mit Mao ebenso
zu verfahren, erbte Deng Xiaoping dessen bessere Seiten. Das Verfahren,
für das sich die neue chinesische Führung entschied, hat jedenfalls die
Delegitimierung der revolutionären Macht vermieden."(16) Ob Ulbricht
bereits so tief in den Konflikt des Jahres 1956 eindrang, sei
dahingestellt. Dass er in eine solche Richtung dachte, scheint aber
wahrscheinlich.
Auf der 29. Tagung des ZK der SED verwandte
Ulbricht den Begriff "Unglück", womit er andeutete, für wie
problematisch er die Vorgehensweise Chruschtschows hielt: "Ihr wisst,
dass wir vorsichtig sein müssen. Es ist ein wichtiges Dokument, das an
einige Parteien geschickt wurde, in falsche, also gegnerische Hände
gekommen. Das hat einen großen internationalen Schaden angerichtet. Ihr
werdet verstehen, dass wir jetzt in solchen Dingen etwas vorsichtiger
sind. Wahrscheinlich werden wir jetzt so verfahren müssen, dass wir
eine Reihe von Genossen zusammenrufen, sie mündlich informieren. Auf
diese Weise werden dann die ZK-Mitglieder in den Bezirken informiert.
Ich möchte also nicht, dass schriftliche Dokumente in diesen Fällen
herausgegeben werden. Es ist ein Unglück passiert, und das genügt."(17)
Auf der Parteiaktivtagung der Berliner Humboldt-Universität am 13. Juni
1956 erklärte Ulbricht: "Genosse Havemann hat in der Diskussion einige
sehr interessante Hinweise gegeben. Er sagte, es sei bei der
'Fehlerkritik' so herausgekommen, als ob die Partei gegen das 'gute
Alte' Fehler begangen habe. Er bemerkte richtig, dass die Gegner vom
Recht reden, aber in Wirklichkeit in Westdeutschland ständig das Recht
beugen. (Von WU durchgestrichen, der folgende Protokolltext:) In der
Tat, selbst wenn man alle Fehler nimmt, die unter Stalins Führung in
der Sowjetunion begangen wurden, oder Fehler, die in den
Volksdemokratien begangen worden sind wie z. B. der Rayk-Prozess
und der Kostoff-Prozess, so sind doch die Sowjetdemokratie und die
Volksherrschaft in den volksdemokratischen Ländern tausendmal
demokratischer als das verruchte System der Diktatur des
Monopolkapitals in Westdeutschland, wo nur das Recht des
Monopolkapitals besteht."(18) Dass er diese Textpassage durchstrich und
für eine größere Öffentlichkeit nicht freigab, zeigt an, dass er sich
seiner Bewertung nicht sicher war. Die Passage aber zeigt auch, dass er
darum rang, eine offensive Auslegung vorzunehmen; auch dies musste
misslingen, weil Moskau einen Rahmen vorgegeben hatte, der auf
Delegitimierung des revolutionären Prozesses ausgelegt war.
Ulbricht
hat vor allem auf der 29. Tagung, sicher auch unter dem Druck von Karl
Schirdewan, Reformideen vorgetragen, die vor allem auf die Stärkung der
Rechte der Arbeiter in den Betrieben gerichtet waren.(19) Sein Konzept
der Arbeiterkomitees bedeutete letztlich die Wiederherstellung der
Betriebsräte, weshalb er vor allem auf Widerstand von Seiten des FDGB
stieß. Die Vertreter der Arbeiterkomitees sollten geheim gewählt werden
und mehr Kandidaten, als gewählt werden konnten, sollten zur Wahl
gestellt werden.
An die Bereitschaft Ulbrichts, sich an die
Spitze der Reformkräfte zu stellen, hätten Walter Janka, Gustav Just
und Wolfgang Harich anknüpfen sollen. Aber das Gespräch, das Ulbricht
Harich gewährte, wurde dafür nicht genutzt. Es scheiterte. Über die
Ursachen des Scheiterns ließ Harich nichts verlauten. Was zwischen
Ulbricht und Harich am 7. November 1956 besprochen worden ist, wurde
durch die Schilderungen Harichs in der Öffentlichkeit bekannt. In
seinem Buch "Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit" verwandte er 21
Zeilen dafür. Er schrieb, dass das Gespräch nur 20 Minuten gedauert
habe. Anders als bei dem Gespräch mit Botschafter Puschkin habe er kein
Wort zu seiner Reform-Konzeption gesagt. Warum eigentlich nicht? Was
aber sagte Harich? "Als ich mich ganz allgemein über unsichere Zeiten
ausließ und zu verstehen gab, dass ich einen politischen
Meinungsaustausch zwischen Führung und Intelligentsja, etwa im Rahmen
der Akademie der Wissenschaften, für geboten hielt, schnitt Ulbricht
mir das Wort ab mit dem Ausruf, schlecht sei an dieser Zeit, dass es
Verräter gäbe, Lukács, Tibor Déry, Julius Hay und andere in Ungarn,
erklärte er, alle seien sie Verräter. 'Und eines sage ich Ihnen: Wenn
sich hier so etwas bilden sollte wie ein Petöfi-Club, das würde bei uns
im Keim erstückt werden.' Auch die damit vernehmlich ausgesprochene
Warnung habe ich in den Wind geschlagen."(20) Warum Ulbricht so heftig
reagierte, teilte Harich dem Leser nicht mit. Ulbrichts Darstellung des
Gesprächs wurde, da sie meines Wissens nie publiziert wurde, nicht so
bekannt wie die von Harich.
Auf der Zentralen Arbeitskonferenz
des ZK der SED schilderte Walter Ulbricht im Dezember 1956 sein
Gespräch mit Harich: "Mir ist folgendes passiert: Ich habe Herrn Harich
zu einer Besprechung bestellt. Da er Professor der Philosophie und
Chefredakteur der Zeitschrift für Philosophie ist, wollte ich mich mit
ihm darüber unterhalten, warum der Meinungsstreit in der Philosophie
nicht vorwärts geht, warum man die neuen Probleme des Sozialismus nicht
diskutiert, die Fragen der sozialistischen Moral usw. Nach fünf Minuten
sagte mir Herr Harich: Wissen Sie, darum geht es gar nicht. Über den
wissenschaftlichen Meinungsstreit gibt es keine Beschwerden. Der geht
doch in der Öffentlichkeit so ganz gut vor sich. - Das interessierte
ihn also gar nicht. Er sagte weiter: Es gibt viel wichtigere Fragen,
zum Beispiel die Konsequenzen aus der internationalen Lage. Es ist
Zeit, dass die volle Selbständigkeit aller Volksdemokratien und aller
Völker gesichert wird. - Ich fragte. Was sollen wir denn noch an
Selbständigkeit bekommen? Mir ist das nicht ganz klar. Niemand
beeinflusst unsere Politik. Es gibt bei uns keine Beauftragten, die die
Regierung zu irgendwelchen Maßnahmen veranlassen. Was wollen sie
eigentlich? Das ist mir unverständlich. - Er sagte: Wenn eine volle
Selbständigkeit bestünde, wie würde das auf die Völker Afrikas, auf den
Nahen Osten usw. wirken? - Er antwortete: Nun, das heißt die volle
Selbständigkeit zum Beispiel auch der Staaten, die in der Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken zusammengefasst sind. - Ich fragte
zurück: Sie meinen also die Selbständigkeit der Ukraine und
Sowjetrusslands? Ja, das auch. - Ich sagte: Jetzt verstehe ich das
erst. Das hat in der Tat mit Philosophie nichts zu tun. Das ist nicht
nur Konterrevolution. Das ist eine Konzeption für den Krieg. - Das war
die ganz sachliche Unterhaltung, die wir hatten."(21)
Dass
sich Ulbricht als Realpolitiker auf solch ein abenteuerliches Konzept
nicht einlassen konnte, scheint plausibel zu sein. Und Harich hat das
wohl auch schnell begriffen, denn er berichtete im "Kreis der
Gleichgesinnten" nicht darüber, womit er das Gespräch zum Scheitern
gebracht hatte.(22) Seine Mitstreiter konnten vor allem deshalb auch
keine richtigen Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen ableiten.
Erst bei den Gesprächen zwischen Rudolf Augstein und Wolfgang Harich am
28. November 1956 erfuhr Harich eine frontale Zurückweisung. Augstein
warf Harich vor, dass er einer Psychose gegen Ulbricht verfallen sei.
Er halte dies für eine Dummheit. Ulbricht sei ein sehr energischer und
geschickter Mann und den meisten Führern im Ostblock überlegen. Es
komme nicht auf einen Führungswechsel in der SED an, sondern auf die
Linie der Moskauer Politik. Wenn diese Linie richtig sei und das werde
sie nach den polnischen und ungarischen Erfahrungen sicher werden, dann
werde Ulbricht diese Linie in der DDR energischer und gründlicher
durchführen, als seine Kollegen in den osteuropäischen Ländern. Harich
widersprach heftig. Aber Augstein blieb bei seiner Auffassung. Ulbricht
würde Harichs Auffassungen besser vertreten als Harich, wenn sich diese
erst einmal in Moskau durchgesetzt hätten. Harich soll doch froh sein,
dass die DDR diesen "wendigen alten Fuchs"(23) zum Parteiführer hat.
Zur
Rolle Ulbrichts im Jahre 1956 wäre noch viel zu sagen, vor allem auch
dazu, warum er nach der ungarischen Tragödie in dieser scharfen
repressiven Art gegen die intellektuelle Opposition in der DDR(24)
(u. a. mit Schauprozessen und hohen Zuchthausstrafen) vorgehen
ließ, allerdings würde das den zeitlichen Rahmen dieses Beitrags
sprengen. Als Konsequenz der ungarischen Ereignisse sah Ulbricht die
Machtsicherung als Gebot Nummer 1 an. Politische Gegner schaltete er
aus, aber im Unterschied zu Stalin ließ Ulbricht politische
Kontrahenten am Leben. Auch richtete er Repression nicht gegen die
ganze Intelligenz. Mit der Gründung des Forschungsrates der DDR bereits
im Jahre 1957 wurde signalisiert, dass Wissenschaftler und Techniker
eine vorrangige Förderung und Unterstützung erfahren.
Ulbrichts
Sieg über die Opposition im Jahre 1956 war verbunden mit einer
Unterdrückung jeglichen Ansatzes zu einem demokratischen Sozialismus,
der als untaugliches Konzept der SPD galt und für die DDR abgelehnt
wurde. Ulbrichts Kurs war ausgerichtet auf einen "realen Sozialismus"
(andere Lesarten: "Staatssozialismus", "autoritärer Sozialismus"), der
sich partiell am chinesischen Modell (bis 1960) und überwiegend
am sowjetischen Modell orientierte, was einem Rückfall hinter die
politische Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft gleichkam. Das
Volkseigentum verharrte auf der Stufe des Staatseigentums, was
bedeutete, dass es zu keiner realen Vergesellschaftung der
Produktionsmittel kam und die Entfremdung weiter wirkte. Die 1958
proklamierte sozialistische Demokratie ("Arbeite mit, plane mit,
regiere mit!") bot Entfaltungschancen, allerdings nur in einem
begrenzten Rahmen. Eine sich verselbständigende Bürokratie bediente
sich der Zentralisierung und des bürokratischen Zentralismus. Der
"reale Sozialismus" verfügte gegenüber seinen Bürgern nur über eine
geringe Bindekraft. In den Westen gingen auch viele Bürger der DDR, die
sich an sozialistischen Idealen orientierten. Der Bildhauer René Graetz
erklärte zu dem Phänomen, dass eine große Zahl links eingestellter
Kunststudenten der DDR in den Westen gingen, 1956 vor Funktionären des
ZK der SED: "Zwei Drittel der Schüler im Westen kommen vom Osten. Das
ist eine Katastrophe. Das ist ein Ergebnis unserer Politik. Unsere
Schüler wissen überhaupt nichts über moderne Kunst. Sie haben hierüber
nur gelernt: Das ist Unterstützung des Imperialismus, das ist
reaktionär usw. - Die Zeit von 1900 bis heute ist für diese ganze
Generation ein vollkommen unbekanntes Blatt. Lenin sagte einmal: Man
muss von allen lernen."(25)
Solche Meinungsäußerungen, die den
Anstoß zu Veränderungen hätten geben können, wurden als "Unklarheiten"
abgetan. Wie sollte es aber bei dem weiter herrschenden Dogmatismus des
SED-Apparates zu einer spontanen Identifikation jedes einzelnen
Individuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen kommen? Gerade auch
hausgemachte Fehler der von Walter Ulbricht geführten SED trugen Ende
der 50er/Anfang der 60er Jahre zur Zuspitzung der Lage in der DDR bei:
Die Krise des Jahres 1961
bewirkte bei Ulbricht ein Umdenken und machte ihn als Staatsmann im
folgenden Dezennium in höherem Grade weise als zuvor, worüber hier
nicht mehr zu sprechen ist. Abschließend soll hinterfragt werden, was
der antikommunistische Zeitgeist im Juni 1961 Ulbricht fälschlich als
"Jahrhundertlüge" anlastet. Auf einer internationalen Pressekonferenz
am 15. Juni 1961 hatte Walter Ulbricht auf eine Anfrage von Annemarie
Doherr von der "Frankfurter Rundschau" zutreffend erklärt, dass er
nicht die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. Auf die Frage des
"Spiegel", ob die Kontrolle über die Luftsicherheit auch die Kontrolle
der Passagiere einschließe, erklärte Ulbricht: "Ob die Menschen zu
Lande, zu Wasser oder in der Luft in die DDR kommen, sie unterliegen
unserer Kontrolle ... Wir machen es genauso, wie man es in London
macht. Damit ist die Sache in Ordnung."(26)
Was Ulbricht hier
gesagt hat, war nichts als die Wahrheit. Im Juni 1961 verfolgte weder
die Sowjetunion noch die DDR das Ziel, in Berlin eine Mauer zu
errichten. Zu dieser Zeit wurde Kurs darauf genommen, den Flughafen
Berlin-Schönefeld als Zentralflughafen für die Ost- und Westberliner
auszubauen. Für den um Berlin entstandenen Konflikt wurde eine
"Luftlösung" angestrebt. Das wäre eine Lösung im Interesse der Bürger
in Ost und West gewesen. Unter Berufung auf alliierte Rechte
blockierten aber die Westmächte eine "Luftlösung", weshalb Nikita
Chruschtschow sich Ende Juli 1961 für eine Abriegelung zu Lande
entschied(27), der die Warschauer Vertragsstaaten und Volkskammer und
Regierung der DDR in den folgenden Tagen zustimmten. Diese
"Mauer"-Lösung ist also keineswegs ohne Zutun des Westens erfolgt.(28)
Anmerkungen
(1) Gerhard Zwerenz: Walter Ulbricht, Archiv der Zeitgeschichte, München - Bern - Wien 1966,S. 25.
(2) Ebenda.
(3)
Boris Chavkin: Moskau und der Volksaufstand in der DDR, in: Boris
Chavkin: Verflechtungen der deutschen und russischen Zeitgeschichte.
Ediert von Markus Edlinger sowie mit einem Vorwort versehen von Leonid
Luks. Ibidem 2008, S. 234.
(4) Ebenda, S. 233.
(5) Vgl. Wilflriede Otto: Die SED im Juni 1953. Interne Dokumente, Berlin 2003, S. 39.
(6) Protokoll der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1952, S. 58.
(7) Vgl. Walter Ulbricht: Lehren des XIX. Parteitages der KPdSU für den Aufbau des Sozialismus in der DDR, Berlin 1952.
(8)
Belegt werden kann das mit der von Konstantin Simonow angefertigten
Mitschrift der zweistündigen Rede Stalins auf der ersten
KPdSU-Plenartagung nach dem XIX. Parteitag der KPdSU, die erst 1989
veröffentlicht wurde. Vgl. Konstantin Simonow: Mit den Augen eines
Menschen meiner Generation. Nachdenken über Stalin, in:
Sowjetliteratur, Moskau 1989, H. 6, S. 56.
(9) Vgl. Gustav Just: Deutsch, Jahrgang 1921. Ein Lebensbericht, Potsdam 2001, S. 92 f.
(10)
Vgl. Siegfried Prokop: Paukenschlag im Kalten Krieg. Die
Churchill-Initiative vom 11. Mai 1953 zur deutschen Frage, in: junge
Welt, 10./11. Mai 2003, S. 10/11.
(11) Karl Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht, Berlin 1994, S. 79.
(12)
Aus dem Bericht Karl Schirdewans an die 29. Tagung des ZK.
Überarbeitetes Protokoll des 29. Plenums des ZK der SED vom 12. bis 14.
November 1956. Als parteiinternes Material gedruckt, Nr. 00843, S. 6.
(13) Vgl. FKK in der DDR. Zusammengestellt von Thomas Kupfermann, Berlin 2008,S. 45.
(14) Vgl. Zwerenz, a.a.O., S. 17.
(15) Archiv der Gegenwart. CD-Rom 1999, S. 05826; Freies Volk (Düsseldorf), 26. Juni 1956.
(16) Domenico Losurdo: Den Widerspruch des Sozialismus beherrschen. In: junge Welt, 10.04.2008, S. 11.
(17) SAPMO-BArch, DY 30 IV 2/1/123.
(18) SAPMO-BArch, NY 4182/502, Bl. 7.
(19)
Vgl. Jochen Czerny: Die 29. ZK-Tagung, die Arbeiterkomitees und das
Dilemma der Mitbestimmung, und Siegfried Prokop: Die internationale
Beratung über Veränderungen in er Gewerkschaftsarbeit sozialistischer
Länder im Oktober 1956 in Sofia. Beide in: Gewerkschaften und
Betriebsräte im Kampf um Mitbestimmung und Demokratie 1919 - 1994, Bonn
1994, S. 97 ff. und S. 182 ff.
(20) Wolfgang Harich: Keine
Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen
Opposition in der DDR, Berlin 1993, S. 45.
(21) SAPMO-Arch, DY 30/IV 2/1.01/314, Bl. 43/44.
(22) Vgl. Siegfried Prokop: 1956 - DDR am Scheideweg. Opposition und neue Konzepte der Intelligenz, Berlin 2006, S. 164 - 166.
(23) Ebenda, S. 200.
(24) Guntolf Herzberg: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin 2006.
(25) SAPMO-Arch, DY 30 2/1.10/308, Bl. 25.
(26)
Erläuterungen Walter Ulbrichts zur Politik der DDR zum Friedensvertrag
und zur Westberlinfrage auf einer internationalen Pressekonferenz, in:
Neues Deutschland, Berlin, 16. Juni 1961.
(27) Vgl. Hans Kroll: Lebenserinnerungen eines Botschafters, Köln/Berlin 1967, S. 512.
(28)
Ausführlicher vgl. Siegfried Prokop: Der 13. August 1961 -
Geschichtsmythen und historischer Prozess, in: Kurt Frotscher/Wolfgang
Krug (Hrsg.): Die Grenzschließung 1961. Im Spannungsfeld des
Ost-West-Konfliktes, Schkeuditz 2001, S. 55 ff.